- Lateinamerika: Zwischen Reform und Diktatur
- Lateinamerika: Zwischen Reform und DiktaturAbhängigkeit von Europa und den USANach den zahlreichen Bürgerkriegen und Putschversuchen, die Lateinamerika im ersten halben Jahrhundert seiner Unabhängigkeit heimgesucht hatten, stabilisierte sich die innenpolitische Situation seit den 1880er-Jahren allmählich. Diese Ruhe glich freilich eher einer Friedhofsruhe, denn die innenpolitischen Grabenkämpfe hatten mitunter einen beachtlichen Blutzoll gefordert. Eine der großen politischen Streitfragen, Monarchie oder Republik als Staatsform, war nach dem Scheitern des mexikanischen Kaiserreiches unter Maximilian I. 1867 und nach der Abdankung Peters II. in Brasilien 1889 endgültig zugunsten der Republik entschieden worden. Im wirtschafts- und innenpolitischen Bereich hatte man sich zu vorläufigen Kompromissen durchringen können. Auch die Konservativen, die bislang den überragenden Einfluss der Kirche in der Gesellschaft gewahrt wissen wollten, lenkten in bestimmten Punkten ein. So schritt man zu Landreformen, bei denen das umfangreiche Immobilienvermögen kirchlicher Einrichtungen mittels Säkularisationen veräußert wurde. Bemerkenswert ist, dass sich nun politische Führer länger an der Macht halten konnten, als dies in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit der Fall gewesen war. Dies gilt etwa für Porfirio Díaz in Mexiko, Manuel Estrada Cabrera in Guatemala, Eloy Alfaro in Ecuador oder Juan Vicente Gómez in Venezuela, allesamt Politiker, die unter liberalen Vorzeichen an die Regierung kamen, deren Herrschaft aber als autoritär, ja teilweise als diktatorisch einzustufen ist. Dass die innenpolitischen Spannungen gleichwohl nicht befriedigend gelöst worden waren, zeigt beispielsweise der »Krieg der Tausend Tage« in Kolumbien von 1899 bis 1901, in dem sich zunächst vornehmlich liberal eingestellte Kaffeebauern gegen die Politik der konservativen Regenerationsregierung stellten. Aus diesen Wirren ging 1903 die Republik Panama hervor, deren regionalistische Bestrebungen von den USA gelenkt worden waren.Der Schritt auf den WeltmarktWesentlichen Anteil an der weitgehenden innenpolitischen Stabilisierung, die allerdings in den jeweiligen Ländern die Macht der Oligarchien kaum antastete, hatte die Öffnung des Subkontinents für den Weltmarkt. Die lateinamerikanischen Nationalökonomien begannen mit dem Export von Rohstoffen aus Bergbau und Landwirtschaft in die sich industrialisierenden Staaten des Nordens. In Kolumbien, Brasilien und Zentralamerika setzte man auf den Kaffeeanbau. Aus dem brasilianischen Amazonasgebiet kam Kautschuk. Mexiko und Venezuela lieferten Erdöl, Argentinien stieg zu einem der größten Weizenproduzenten der Welt auf und exportierte in den neu aufgekommenen Kühlschiffen Rindfleisch. Chile belieferte den Weltmarkt mit Kupfer und Salpeter, Bolivien mit Zinn. Lateinamerika integrierte sich so in den Weltmarkt, um dadurch die eigene wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Begleitet wurde diese ökonomische Öffnung von einer geistigen Orientierung an europäischen Entwicklungen. Die intellektuelle Elite erblickte im französischen Positivismus, der um die Jahrhundertwende in fast ganz Lateinamerika zur vorherrschenden Fortschrittsideologie wurde, das geeignete Entwicklungsmodell für den Subkontinent.Beginn der US-amerikanischen VorherrschaftIm Zeitalter des Imperialismus kennzeichnete die lateinamerikanischen Nationalökonomien vor allem eine Form informeller Herrschaft durch Kapital- und Handelsbeziehungen. Um 1900 dominierte noch immer Großbritannien den Außenhandel Lateinamerikas. Mit 43,5 Prozent kam fast die Hälfte aller Investitionen aus dem Vereinigten Königreich; ein Fünftel stammte aus den USA, ein Siebtel aus Frankreich, und zehn Prozent stammten aus dem Deutschen Reich. Die europäische Vorherrschaft ging jedoch mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. Zwischen 1914 und 1929 verdreifachten die Vereinigten Staaten ihre Direktinvestitionen in Lateinamerika. Gleichzeitig engagierten sie sich im klassisch imperialistischen Sinne vor allem in der Karibik und in Mittelamerika. Die USA trugen 1898 entscheidend zur Loslösung Kubas und Puerto Ricos, der beiden letzten spanischen Kolonien in Amerika, vom iberischen Mutterland bei. Durch das »Platt-Amendment« — 1901 vom US-amerikanischen Kongress verabschiedet —, das als Anhang Teil der kubanischen Verfassung von 1902 wurde, sicherte sich der »Koloss aus dem Norden« bestimmenden Einfluss auf die kubanische Außenpolitik, die der US-amerikanischen untergeordnet wurde, und ein Interventionsrecht auf der Zuckerinsel. Mit kurzen Unterbrechungen war Nicaragua zwischen 1912 und 1932 ein US-amerikanisches Protektorat. Den nationalistischen Guerillatruppen unter dem vormaligen Liberalen Augusto César Sandino, der 1934 ermordet wurde, gelang 1932 die Vertreibung der nordamerikanischen Truppen. Die Loslösung Panamas von Kolumbien 1903 diente den US-amerikanischen Interessen insofern, als ihnen dadurch eine Wasserstraße zur Verfügung stand, die die Ostküste der Vereinigten Staaten mit der Westküste verband. 1902 prallten die Interessen der USA und der Europäer in Venezuela aufeinander. Um nicht bediente venezolanische Auslandsschulden einzutreiben, blockierten deutsche, britische und italienische Schiffe die Küste Venezuelas und damit die Erdölversorgung der Vereinigten Staaten. Die USA schalteten sich in den Konflikt ein und erreichten eine Lösung des Schuldenproblems. Im Zeitalter des Kalten Krieges setzten die USA diese Interventionspolitik in der Karibik und in Zentralamerika fort; in den großen Flächenstaaten unterstützten sie bis zum Fall des Kommunismus die antikommunistischen (Militär-)Regime.Im Gefolge der außenorientierten Entwicklungspolitik (desarrollo hacia afuera), das heißt einer auf den Export ausgerichteten Politik, ergaben sich auch Entfaltungsmöglichkeiten für die Industrie in Lateinamerika selbst. Die Aktivitäten konzentrierten sich vor allem auf die Leichtgüterindustrie, insbesondere Textilien und Nahrungsmittel. Führende Industriesektoren, wie beispielsweise die Elektro- oder Chemieindustrie, fehlten dagegen bis 1929 fast vollständig. Mittels der Zölle, die eine wesentliche Einnahmequelle für die lateinamerikanischen Staatshaushalte darstellten, konnten Maßnahmen im Infrastrukturbereich finanziert werden. Zu den bemerkenswertesten Neuerungen zählte ohne Zweifel der Eisenbahnbau. Die Einführung dieses neuen Verkehrsmittels, die in einigen Länder wesentlich durch europäische Investitionen ermöglicht wurde, schuf die Voraussetzungen für den Austausch von Gütern und Personen. Erstmals konnten nun die einzelnen Länder zu einem geschlossenen Raum zusammenwachsen. Die Geographie — schwer überwindbare Bergketten und das weitgehende Fehlen schiffbarer Flüsse — hatte dies bislang wesentlich behindert. Auch der Aufbau eines Telegrafennetzes trug seinen Teil bei. Freilich ließ sich durch dieses neue Kommunikationsmittel auch die politische Herrschaft im Lande leichter durchsetzen.Die Entwicklung der sozialen SchichtenWas das Los der breiten Masse der Bevölkerung angeht, so lebten um 1900 noch immer drei von vier Lateinamerikanern auf dem Land. Meist wirtschaftlich und sozial abhängig von einem mächtigen Großgrundbesitzer, waren die Bauern diesem zum Teil in einer Art Semisklaverei und Schuldknechtschaft ausgeliefert; zum Teil lagen die bäuerlichen Gemeinden in beständigem Kampf mit Hacienda- und Plantagenbesitzern. Formal kannte man bis 1888 in Brasilien die Sklaverei. Doch auch deren Abschaffung verbesserte die Lage der Schwarzen in der Realität kaum. Vom Zugang zur Bildung und von der Möglichkeit des sozialen Aufstiegs waren sie vollkommen ausgeschlossen. Insbesondere im südlichen Teil Südamerikas — in Brasilien, Argentinien, Uruguay und Chile — strebten die Regierungen danach, europäische Einwanderer in ihre Länder zu ziehen, da man sich von diesen wichtige Impulse für die kulturelle und sozioökonomische Entwicklung erhoffte; Anstöße, die die europäisch geprägte Oberschicht in diesem Teil Lateinamerikas den Schwarzen oder den als Barbaren bezeichneten Indios nicht zutraute. Im Gegenteil: Im Zeitalter des Positivismus lehnten die meisten die indianische Bevölkerung als rückständig ab und förderten somit deren soziale, wirtschaftliche und kulturelle Zurückdrängung. Im Norden Mexikos und im Süden Argentiniens ging man bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sogar mit Waffengewalt gegen die letzten nomadisierenden Indianervölker — Yaquis in Mexiko, Indios der Pampa in Argentinien und Araukaner in Südchile — vor.Soziale Freiräume und die Möglichkeit einer größeren sozialen Mobilität gab es dagegen in den Städten. Es formierte sich nun jener Gegensatz zwischen dem urban-dynamischen und dem ländlich-traditionellen Lateinamerika, der von der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung als »strukturelle Heterogenität« bezeichnet wird. Zwar hatte die Landflucht bereits koloniale Vorläufer, doch im Laufe des 19. Jahrhunderts und insbesondere an der Wende zum 20. Jahrhundert setzte die Urbanisierung verstärkt ein. Schlechte Wohnverhältnisse und mangelnde Hygiene bedingten eine hohe Kindersterblichkeit und gaben häufig Anlass zur Sorge wegen der drohenden Seuchengefahr.Die Entstehung der Arbeiterschaft nahm in diesen Armutsquartieren ihren Anfang. Dabei überwog jedoch die anarchosyndikalistische Orientierung, die wesentlich durch italienische und spanische Einwanderer gestärkt wurde. Die mexikanische Arbeiterbewegung ihrerseits orientierte sich stark am US-amerikanischen Anarchismus. Trotz ihrer meist geringen quantitativen Bedeutung betrat die Arbeiterschaft in einigen Ländern die politische Bühne. 1891 kam es in Chile zu ernsten Unruhen. Fortan gehörten die Arbeiter und die Befriedigung ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ansprüche zu den politikbestimmenden Faktoren in Lateinamerika. Doch für die Arbeiterschaft, die aufgrund ihrer sozialen Stellung zur Mittelschicht zu zählen ist, gilt hinsichtlich der Durchsetzung demokratischer Normen prinzipiell dasselbe wie für die übrigen Angehörigen der Mittelklassen: sie hatte ein nur sehr begrenztes Interesse an einer liberal-pluralistischen Ordnung. Um die Jahrhundertwende erfuhr die bislang dominierende Oligarchie Argentiniens erste Einbußen ihrer Macht durch die Einführung von Wahlreformen. Auch in Brasilien wurde nach dem Sturz der Monarchie das Wahlrecht für schreib- und lesekundige Männer ab 21 Jahren eingeführt. Wenige Jahre später wandte sich eine im argentinischen Córdoba 1918 ausgebrochene Studentenrevolte gegen Verkrustungen in Universität und Gesellschaft; ein Protest, der überall in Lateinamerika begeisterte Aufnahme bei Kommilitonen und Intellektuellen fand.Die Professionalisierung des MilitärsHatte das Militär seit der Unabhängigkeitsphase eine weitgehend autonome Stellung im Staat innegehabt, so setzten um 1900 spürbare Domestizierungsversuche ein. Die Professionalisierung der Streitkräfte, die durch preußische und französische Offiziere befördert wurde, nahm ihren Anfang. Doch zeigte dieser Prozess nicht die erhoffte gesellschaftlich-politische Wirkung. Auch nach der Modernisierung ihrer Strukturen kam dem Militär weiterhin eine bedeutende Rolle in der lateinamerikanischen Politik zu. Im Gegenteil, gerade die Reform der Streitkräfte bewirkte einen stärkeren Kontakt der Armee mit der Gesellschaft. Die Schaffung geregelter Offizierslaufbahnen zog insbesondere die Söhne der neu entstandenen Mittelschicht an. Die allgemeine Wehrpflicht gewährte den Offizieren und Generälen Einblick in die Lebensbedingungen der aus einfachen Verhältnissen stammenden Soldaten. Insgesamt wurde das Heer sensibler für die sozialen Nöte der Bevölkerung, und in der Tat gehen einige Sozialreformen in Lateinamerika auf den Einfluss des Militärs zurück. In Chile wurden Arbeiterschutzgesetzgebung, Altersversorgung und andere soziale Verbesserungen auf Intervention der Streitkräfte eingeführt. Zwar trifft es zu, dass die Armee häufig zur Niederschlagung von Streiks und anderen Arbeitskämpfen eingesetzt wurde, doch lässt sich Militärherrschaft in Lateinamerika vor dem Kalten Krieg nicht immer mit sozialer Repression gleichsetzen. Gerade hierin lag auch die Beliebtheit mancher Militärführer bei weiten Teilen der Bevölkerung begründet.Die mexikanische Revolution 1910 bis 1917Stabilität und sozioökonomische Entwicklung waren seit den 1880er-Jahren von der Integration in den Welt- markt abhängig. Sobald dieser konjunkturelle Schwächen aufwies, geriet das gesamte Entwicklungskonzept in Ge- fahr. 1896 hatte beispielsweise der Verfall der Kaffeepreise dem »Krieg der Tausend Tage« in Kolumbien den Boden bereitet. Doch weitaus tiefer greifende Folgen sollte die konjunkturelle Abschwächung in den USA im Jahre 1905 haben. Dieser Einbruch führte in Mexiko zu einer folgenschweren Krise, die schließlich in die mexikanische Revolution mündete.Durch die zurückgegangenen Exporte in die Vereinigten Staaten kam es in Mexiko zu Einkommensverlusten und Arbeitskämpfen. In deren Verlauf forderte der am US-amerikanischen Anarchismus orientierte Ricardo Flores Magón soziale Verbesserungen wie den Achtstundentag. Das Regime des greisen Porfirio Díaz verstand es nicht, die sozialen Spannungen zu entschärfen. Im Gegenteil, es trug selbst dazu bei, den Unmut der Bevölkerung zu steigern. Díaz hatte eine Reihe von alten Kameraden und politischen Freunden, aber auch von ernst zu nehmenden Gegnern durch Übertragung wichtiger Positionen in sein Regime eingebunden. Diese Riege alt gewordener Politiker blockierte den sozialen Aufstieg junger, aus der Mittelschicht stammender Akademiker und Freiberufler. Doch selbst vermögende Agrarunternehmer, wie der aus Nordmexiko stammende Haciendabesitzer Francisco Indalecio Madero, sahen sich von der politischen Mitsprache ausgeschlossen, eine Tatsache, die umso schwerer wog, als es in dieser kritischen Zeit vor 1910/11 um den Kurs der Wirtschaftspolitik ging. Mit Madero wuchs der liberal gesonnenen Opposition eine Figur zu, die nunmehr die Beachtung liberaler Grundsätze einklagte. Doch der im Frühjahr 1911 ausgebrochene Widerstand unter Madero entglitt schnell der Kontrolle der politischen Oberschicht, der es im Grunde nur um Mitwirkung an der Regierung, nicht aber um eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft ging.Die Bauernführer Emiliano Zapata und Pancho VillaDer Aufruf zum Widerstand gegen Díaz im Jahre 1911 hatte nicht nur die Arbeiter ermutigt, ihre Forderungen vorzutragen. Auch die Bauern im Süden Mexikos erhoben sich nun. Sie waren im Zuge der Kommerzialisierung und weiteren Kapitalisierung der Landwirtschaft einem erheblichen Verdrängungswettbewerb ausgesetzt. Im südlich von Mexiko-Stadt gelegenen Bundesstaat Morelos wählten sie einen jungen Gemeindevorsteher und Kleinbauern zum Führer: Emiliano Zapata. Unter ihm formierte sich eine Bauernguerilla, die die sozialpolitischen Forderungen mit bewaffneten Mitteln durchzusetzen versuchte. Unterstützt wurde diese Agrarbewegung im Süden durch einen Bauernführer im Norden: Francisco Villa, genannt Pancho, eine schillernde Figur, dem es letztlich selbst vor allem um den persönlichen Aufstieg zum Großgrundbesitzer ging. Vergeblich versuchte Madero, die sozialen Bewegungen mittels Gewalt niederzuhalten. Dabei geriet er selbst zwischen die Fronten der kämpfenden Bauern und des mit der Niederschlagung des Aufstands betrauten Militärs, das sich nach der alten Ordnung sehnte. In der »Tragischen Woche« wurden Madero und sein Vizepräsident Pino Suarez am 22. Februar 1913 vom Militär ermordet. General Victoriano Huerta scheiterte mit seinem Versuch, die sozialen Forderungen der Bauern mit Waffengewalt zu bekämpfen. 1914 wurde er von den vereinigten Bauernheeren unter Zapata und Villa geschlagen, die darauf in die Hauptstadt einzogen.Den Konstitutionalisten unter den späteren Präsidenten Venustiano Carranza und Álvaro Obregón gelang es schließlich, die revolutionären Parteien zum Ausgleich zu bewegen. Die liberale Verfassung von Querétaro im Jahre 1917 hat sich als die bislang langlebigste Konstitution Lateinamerikas erwiesen: Sie ist bis heute in Kraft. Gleichzeitig bewirkte die Revolution den Verlust des politischen Einflusses der Oligarchie; sie blieb gleichwohl wirtschaftlich und sozial mächtig. Auch das Militär schied aus der Politik aus. Die Verfassung von 1917 legte weiterhin fest, dass der dörfliche Gemeindebesitz und das Kleinbauerntum geschützt wurden. In die Tat umgesetzt wurde dies durch Landverteilungen unter dem Präsidenten Obregón, vor allem aber unter Lázaro Cárdenas in den Dreißigerjahren, als fast die Hälfte des bebauten Bodens in Form genossenschaftlicher Bewirtschaftung den Dorfgemeinden gesichert wurde. Mit der 1929 gegründeten nationalen Revolutionspartei, die sich später in Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) umbenannte, entstand eine Mexiko bis in die Neunzigerjahre hinein dominierende Einheitspartei, in der die unterschiedlichen Mitglieder der »Revolutionären Familie« (Bauern, Arbeiter, Gewerkschaften, Intellektuelle) in korporativer Weise zusammengeschlossen waren.Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929Die mexikanische Revolution nahm vorweg, was sich im Jahre 1929 auch im übrigen Lateinamerika zeigen sollte: Die Weltwirtschaftskrise setzte dem außenorientierten Entwicklungs- und Modernisierungsmodell ein jähes Ende. An den Folgen dieses ökonomischen Zusammenbruches litten die lateinamerikanischen Staaten bis in die 1980er-Jahre hinein. Streikwellen und soziale Aufstände erfassten seit 1929 die einzelnen Länder und ihre Nationalökonomien. Um die Unruhen und die soziale Unzufriedenheit zu kanalisieren, griffen die Militärs erneut ein. Aus ihren Reihen entstammte ein neuer Politikertyp, der in den kommenden Jahrzehnten die politische Landschaft des Kontinents bestimmen sollte: die Populisten. Zwar gab es auch zivile Populisten, doch insbesondere Offiziere und Generale verkörperten diesen neuen die Person des Politikers betonenden Typus, für den Juan Domingo Perón in Argentinien und Getúlio Vargas in Brasilien als Beispiele genannt werden können. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den auf regionale Gefolgschaft abzielenden, meist sich auf die ländliche Bevölkerung stützenden Caudillos, suchten die Populisten ihre Basis auf nationaler Ebene und fanden vor allem bei den städtischen Schichten des Mittelstandes und der Arbeiter ihren Rückhalt.Ihr besonderes Augenmerk galt der Wirtschaftspolitik. Unter Absage an das bislang geltende, auf Rohstoffexporten basierende Konzept betrieben die Populisten stattdessen eine Politik der Importsubstitution (»Entwicklung nach innen«), das heißt, Massenkonsumgüter sollten zukünftig nicht mehr importiert, sondern im eigenen Land hergestellt werden, um so Arbeitsplätze zu schaffen und die Erzeugnisse zu erschwinglichen Preisen breiten Bevölkerungsschichten anbieten zu können. Natürlich spielte ausländisches Kapital auch nach 1929 eine wichtige Rolle, doch die traditionell starke Rolle des Staates in der Wirtschaft bekam nun neuen Auftrieb in Form von Deficitspending, der Steuerung der Konjunktur mit öffentlichen Mitteln, sowie staatlichen Unternehmen und Monopolen. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs erreichten die großen Flächenstaaten Lateinamerikas beachtliche Wachstumsraten.Die Populisten — Getúlio Vargas und Juan Domingo PerónSo nimmt es nicht Wunder, dass einige Populisten, die zunächst als Putschisten zivile Regierungen gestürzt hatten, vom Volk in freien Wahlen an die Spitze des Staates gestellt wurden, wie beispielsweise Perón und Vargas. Sie engagierten sich für die Belange der Arbeiter und versuchten, die sozialen Gruppen in Form von Korporationen zu organisieren, wie dies António de Oliveira Salazar in Portugal und Francisco Franco Bahamonde in Spanien mit dem »Neuen Staat« ins Werk gesetzt hatten. Nicht der »Klassenkampf« sollte die sozialen Beziehungen regeln, vielmehr stand den Populisten eine berufsständisch-korporative Gesellschaftsordnung vor Augen, so etwa im von Vargas ausgerufenen Estado Novo (»Neuen Staat«) in Brasilien 1937. Gezielt bedienten sie sich — in Anlehnung an das Vorbild des nationalsozialistischen Deutschland und des Italien Benito Mussolinis — des neuen Mediums Rundfunk, das ihnen zu landesweiter Popularität verhalf. Unter dem Gesichtspunkt der Etablierung pluralistischer Demokratien bedeuteten aber auch die populistischen Regierungen keinen Fortschritt, denn letztlich behielten die neuen Machthaber politisch das Heft fest in der Hand. So wurden in vielen lateinamerikanischen Staaten die Gewerkschaften nicht von der Basis gegründet, sondern auf Betreiben von oben ins Leben gerufen, wie beispielsweise im postrevolutionären Mexiko oder im Argentinien Peróns. Ihre Anfälligkeit gegenüber Manipulationen verwundert daher nicht. Während in Europa und den USA Arbeitnehmervertretungen durch ihre aktive Einflussnahme als Interessengruppe zur Stärkung und Festigung der sozialen Demokratie beitrugen, kann die Gewerkschaftsbewegung in Lateinamerika dies in der Regel nicht von sich behaupten.Die Ausbildung der ParteienlandschaftEinen weiteren Beleg für den durch die Industrialisierung seit der Weltwirtschaftskrise hervorgerufenen sozialen Wandel stellt die vorsichtige Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft dar. Nach 1929 meldeten immer mehr soziale Gruppen ihre Ansprüche an, Forderungen, mit deren Artikulierung und Durchsetzung in zunehmendem Maße Parteien betraut wurden. Neben die traditionellen Lager der Liberalen und Konservativen traten nun kommunistische, sozialistische und seit dem Zweiten Weltkrieg auch christlich-demokratische Gruppierungen. So war noch 1926 die sozialistische Partei Kolumbiens entstanden, der 1930 die kommunistische Partei folgte. Sechs Jahre später kam es in dem Andenstaat zur Bildung einer Volksfront, die von dem Liberalen Alfonso López Pumarejo geführt wurde.Auch die Populisten, wie etwa Perón, versuchten, Parteien zu etablieren. Während hierzulande die politischen Parteien eine wesentliche Rolle bei der demokratischen Artikulierung und Durchsetzung der Interessen spielen, bestimmt in Lateinamerika der zum Autoritarismus neigende Personalismus die Parteienlandschaft. Weniger gemeinsame Ideale und Interessen binden die Wähler als vielmehr die Gefolgschaft zu einer Führerpersönlichkeit. Das Ausscheiden eines tonangebenden Politikers führte daher meist gleichzeitig zu Neuorientierungen in der Wählerschaft und somit — mangels dauerhafter Parteibindungen — zu politischer Instabilität. So zerbrach nach dem Tod Juan Domingo Peróns 1974 unter seinen Anhängern der Konsens darüber, was als »peronistische Politik« zu gelten habe, und folglich gaben linke und rechte Gruppen in Argentinien vor, das Erbe des Generals weiterzuführen.Obwohl Lateinamerika zahlreiche wirtschaftliche und soziale Fortschritte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs vorweisen konnte, bildeten doch die alten, zum Teil noch aus der Kolonialzeit stammenden Strukturdefizite wesentliche Entwicklungshindernisse. Zu den Belastungen zählt ferner das ungebremste demographische Wachstum, das erst in den 1980er-Jahren allmählich an Schwung verlor. Die steigende Zahl von Menschen, die nach Arbeit suchen und als Landlose in die Städte strömen, wirkt immer wieder hemmend auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Subkontinents. Auch die nach wie vor ungerechte Sozial- und Wirtschaftsordnung bildet eine schwere Hypothek. Bei allen positiven Entwicklungstendenzen blieb und bleibt die Armutsproblematik eines der drängenden Probleme Lateinamerikas.Prof. Dr. Peer SchmidtWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Lateinamerika: Oligarchien und Militärdiktaturen ab 1929Grundlegende Informationen finden Sie unter:Lateinamerika (1820 bis 1860): Ein Kontinent ordnet sich neuGrenzenlose Märkte? Die deutsch-lateinamerikanischen Wirtschaftsbeziehungen vom Zeitalter des Imperialismus bis zur Weltwirtschaftskrise, herausgegeben von Boris Barth und Jochen Meissner. Münster u. a. 1995.»Integration und Transformation«. Ethnische Gemeinschaften, Staat und Weltwirtschaft in Lateinamerika seit ca. 1850, herausgegeben von Stefan Karlen und Andreas Wimmer. Stuttgart 1996.
Universal-Lexikon. 2012.